Tabletoprollenspiele in Japan

Wie das Rollenspiel erst auf die Welt und dann nach Japan kam.

Wie das Rollenspiel erst auf die Welt und dann nach Japan kam

Dieses Buch handelt von japanischen Computer- und Konsolenrollenspielen. Die erste Seite des ersten Kapitels sollte also wahrscheinlich davon handeln, wie das erste Rollenspiel auf einen Computer kam. Doch ist das wirklich der Beginn? Tatsächlich müssen wir zunächst erörtern, wie das Genre des Rollenspiels überhaupt entstand – und das nicht nur in Japan. Denn die Unterschiede zwischen japanischen und westlichen Rollenspielen fangen nicht erst bei den tatsächlichen Spielen an, sondern schon bei den Inspirationsquellen für eben diese. Die Frage sollte also nicht lauten: „Was war das erste japanische Rollenspiel?“, sondern: „Wieso gab es überhaupt japanisches Rollenspiel?“ Und die Antwort darauf ist länger als man denkt.

Sie beginnt nämlich in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. Spielerische Darstellungen von Kriegssituationen dienten jungen Offizieren schon seit Längerem als Übung von tatsächlichen Konfliktsituationen. Kurz gesagt handelte es sich meist um elaboriertere Formen des Schachs, die jedoch die echten Begebenheiten eines Schlachtfelds wie z. B. das Gelände nur notdürftig wiedergeben konnten. Der preußische General George Lepold von Reißwitz begann um 1812 mit der Entwicklung besserer Darstellungen solcher Gefechte, was sein Sohn Georg Heinrich Rudolf von Reißwitz aufnahm und immer weiter perfektionierte. Seine Schlachtensimulation nannte er Kriegsspiel und ziemlich schnell verbreitete sich das Spiel unter deutschen Militärs. Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Spiel immer weiter (es erschienen immer neue Editionen und Erweiterungen, die die technischen Neuheiten der damaligen Zeit wie Eisenbahn oder Marinekriegsführung einbauten) und es verbreitete sich immer weiter. In der zweiten Hälfte war es bereits in England, Frankreich und auch in den Vereinigten Staaten bekannt.

Vom Kriegsspiel zum Tabletop zum Rollenspiel

Das Kriegsspiel hatte bereits große Ähnlichkeit mit den Tabletop-Spielen, die man heute noch kennt wie Warhammer. Im Gegensatz zum Schach gibt es immer Zufallselemente (eingeführt durchs Würfeln), die eine Partie berechenbar, aber nicht komplett ausrechenbar machten. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Kriegsspiele auch für den normalen Bürger vermarktet, beginnend mit dem von Charles S. Roberts entwickelten Tactics (1954, The Avalon Game Company). Seine Firma stellte in der Folge immer mehr Spiele her, die auch die Systeme immer weiter entwickelten: mal wurden quadratische durch hexagonale Felder ersetzt, mal werden neue Mechaniken wie Kontrollzonen eingeführt. (Barton, 2008, S. 16) Thematisch orientierte man sich vor allem am 2. Weltkrieg. Avalon Hill dominierte den Kriegsspielmarkt für einige Jahre und zeichnete sich später sogar als (wenig einflussreicher) Hersteller von Computerspielen aus. (Appelcline, 2019, S. 207ff.)

Kriegsspiele zeichneten sich vor allem durch einen hohen Materialaufewand aus: man benötigte viele Mniaturen und riesige Dioramen zum Spielen. Eine Partie Siege of Bodenburg (1967, Strategy & Tactics), eins der ersten Kriegsspiele im mittelalterlichem Setting, war es dann auch, die Gary Gygax in die Szene brachte. Er sollte zunächst zusammen mit Jeff Perren Chainmail (1971, Guidon Games) entwickeln, ein Spiel, das den Fokus von den großen Schlachten zu den Geschichten einer kleinen Gruppe Abenteurer am Rand solcher Schlachten lenkte (Systeme für Massenschlachten gab es aber trotzdem noch im Regelwerk). Wodurch das Spiel aber vor allem aus der Masse herrausstach war ein Appendix, mit dem man Fantasycharaktere wie Zauberer oder Krieger erschaffen konnte. Die Weiterentwicklung des Spiels durch Gygax und Dave Anderson gipfelte schließlich 1974 in der Erschaffung von Dungeons and Dragons. Das Spiel ist wohl ohne Frage eines der einflussreichsten Spiele aller Zeiten und legte den Grundstein für quasi alle Entwicklungen, die wir auf dem Rollenspielmarkt seitdem sehen.

Natürlich haben auch solche Pen-and-Paper-Rollenspiele ihre Nachteile. Zwar benötigt man nun keinen riesigen Keller mehr, auf dem man die Schlachten ausspielen kann, aber man muss viel Zeit in das Verstehen der Regeln und das Erleben einer Abenteuerkampagne stecken. Das Aufkommen von Computern (zunächst an Forschungseinrichtungen, später in Form der Heimcomputer) schien dieses Problem zu lösen: der Computer könnte die Welt simulieren und man kann sich voll aufs Spielen Konzentrieren, ohne mit einer Gruppe anderer Leute Terminabsprachen eingehen zu müssen. Die ersten Computerrollenspiele waren Dungeon (1975 oder 1976), pedit5 (1975) und dnd (1975). Alle diese Spiele waren sowohl vom Herr der Ringe als auch von Dungeons and Dragons beeinflusst. In der Tat war der Einfluss des Rollenspiels so groß, dass nahezu jedes Rollenspiel dieser Zeit versuchte, die Regeln und Mechaniken exakt zu kopieren. Mit Akalabeth: World of Doom (1981), dem Vorgänger von Ultima (1981), sowie Wizardry (1981) war schließlich der Durchbruch des Genre auch auf Heimcomputern nicht mehr abzuwenden. Es folgte ein goldenes Jahrzehnt für Computerrollenspiele im Westen.

Japanische Rollenspiele

Man könnte nun vermuten, dass die Entwicklung in Japan ganz ähnlich voranschritt. Wieso sollte es im militaristischen Japan des frühen 20. Jahrhunderts keine Kriegsspiele gegeben haben, die dann wiederum nach dem Krieg zu Brettspielen und schließlich zu Computerspielen wurde? Zumindest der erste Teil passt, japanischen Militärs waren Kriegsspiele bekannt. In den Siebziger Jahren wurden die Tabletop-Spiele aus den USA importiert, auch wenn sie keine große Reichweite hatten. Möglicherweise war es im Nachkriegsjapan schwierig, genug Miniaturen für ein Spiel zu importieren, so dass sich nur wenige so ein Hobby leisten konnten. Dafür spräche ein ökonomischer Grund: Der Wechselkurs Dollar-Yen war bis 1971 auf 1:360 festgesetzt. Als dieser feste Kurs abgeschafft wurde, holte der Yen schnell auf und verdoppelte seinen Wert innerhalb von sieben Jahren. Erst ab diesem Zeitpunkt wäre ein Import für viele Japaner wohl möglich gewesen. Auch der militaristische Charakter dieser Spiele kam im pazifistisch-orientierten Nachkriegsjapan eventuell nicht gut an. In Japan entwickelte Kriegsspiele folgten erst in den Achtzigern.

Auch Tischrollenspiele wurden kaum in Japan gespielt. Da Computerrollenspiele nahezu zeitgleich mit ihren analogen Geschwistern auf den japanischen Markt kamen und es keine gewachsene Kriegs- oder Rollenspielcommunity gab, die deren komplexe (und zunächst nur auf englisch verfügbare) Regeln sofort verstand, waren die leichter zugänglichen Computerrollenspiele im Vorteil. Die nicht-digitalen Spiele, die in Japan als table talk RPGs bekannt sind, konnten diesen Vorsprung niemals aufholen. Trotzdem erreichten sie über Umwege den japanischen Mainstream: Spielprotokolle von Rollenspielsitzungen wurden als sogenannte Replays als Bücher verkauft und erreichten so auch Nicht-Spieler. Das wohl bekannteste Replay ist Record of Lodoss War (1986), das später als Manga und Anime sogar im Westen erschien. Die unmittelbaren Bezüge zu Dungeons and Dragons sind für uns jedoch verloren gegangen.

Es gab also keinen einheimischen Rollenspielmarkt und importierte Computerrollenspiele sorgten für einen ersten Boom. Und habe ich am Anfang dieses Kapitels noch gesagt, die Antwort auf das „Wieso gab es überhaupt japanisches Rollenspiel?“ sei überraschend lang, kann ich jetzt doch sagen, dass die Antwort überraschend kurz (aber nicht weniger verwirrend!) ist. Denn die Antwort lautet: Wizardry.